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Konzeption

Die Kinder und Jugendlichen

Die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche in der heutigen Welt werden immer schwieriger. Die nahezu ausschließlich von den Bedürfnissen der Erwachsenenwelt bestimmten Verhältnisse sind alles andere als kindgerecht. Die Kinder und Jugendlichen, die in Jugendhilfeeinrichtungen leben, sind in aller Regel unter besonders wenig kindgerechten Bedingungen aufgewachsen. Die Folgen zeigen sich in psychischen Problemen der Kinder und Jugendlichen, die individuell sehr unterschiedlich gelagert sein können.

Manche Kinder und Jugendlichen entwickeln sich unter diesen Umständen zu Persönlichkeiten, denen wegen ihrer neurotischen Fehlentwicklungen kontinuierliche pädagogische und evtl. auch therapeutische Hilfe gewährt werden muss und bei denen ambulante pädagogisch-therapeutische Maßnahmen nicht (mehr) ausreichen, um eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Diesen jungen Menschen wollen wir im EIDERHAUS Hilfe anbieten.

Für Mädchen und Jungen, deren Persönlichkeitsstruktur durch Ich-Defizite und mangelhaft ausgebildete Verhaltenskontrolle geprägt ist, wollen wir die Möglichkeit schaffen, ihre Lebensumstände und ihre Lebenseinstellung positiv zu verändern. Wir erleben z.B. ihre gering ausgebildete Frustrationstoleranz, geringe Selbstachtung und Selbstzufriedenheit, die emotionale Labilität und Undifferenziertheit, die unrealistische Aufnahme und Verarbeitung von Umweltreizen, die unrealistische Einschätzung der eigenen Person und der Wirkungen ihrer Handlungen auf die Umwelt, fehlende Lebensplanung und fehlenden Lebensmut, Aggressivität ebenso wie Depressivität und das daraus resultierende Fluchtverhalten der Kinder. Wir sehen die Grundlagen dafür in tieferliegenden seelischen Störungen und Fehlentwicklungen. Oftmals liefert das Kind nur mit äußerlich sichtbarer Symptomatik wie Trebegängerei, Eigentumsdelikten, Schuleschwänzen oder allgemeiner Leistungsverweigerung Hinweise auf die grundlegende Problematik.

Wir treffen in unserer Arbeit fast ausnahmslos Kinder und Jugendliche an, deren heutige Schwierigkeiten auf Deprivationen infolge Entbehrungen der verschiedensten Art in früheren Lebensphasen zurückzuführen sind. Meistens handelt es sich dabei um Entbehrungen während der ersten drei bis sieben Lebensjahre. Die Erwachsenen erwiesen sich für diese Kinder als nicht verlässliche Partner oder als inkonsequente Partner. Häufig sind Entbehrungen in der Befriedigung der grundlegendsten Lebensbedürfnisse festzustellen oder die Kinder mussten bei vordergründig ausreichender Versorgung und Pflege auf die Erfüllung weiterer elementarer Bedürfnisse verzichten. Entbehrungen auf dem Gebiet der Liebe und Zuneigung, der Achtung und der Wertschätzung, enttäuschte Liebessehnsucht und enttäuschtes Zärtlichkeitsbedürfnis hinterlassen Wunden, deren Tiefe auch heute noch nicht immer im erforderlichen Maß gesehen wird.

Viele der Kinder und Jugendlichen, die in der Heimerziehung leben, haben in ihrer bisherigen Lebensgeschichte mehr oder weniger starke Misshandlungen erlebt. Sie waren mit Gewalt in verschiedensten Formen konfrontiert oder ihr persönlich ausgesetzt. Der Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung, von denen wir wissen, dass sie in ihrer bisherigen Biographie sexueller Misshandlung ausgesetzt waren, ist in den letzten Jahren nach unseren Beobachtungen stark gestiegen. Bei vielen Kindern und Jugendlichen stellt sich erst im Lauf der Zeit heraus, dass sie in ihrer bisherigen Lebensgeschichte sexuelle übergriffe erdulden mussten. So können wir feststellen, dass während der letzten Jahre ein Großteil der Mädchen, mit denen wir in unserer Einrichtung zu tun hatten, in ihrer Vorgeschichte sexuelle Übergriffe oder Misshandlungen erlitten hatten. Deutlich ist die Anzahl der Jungen gestiegen, von denen wir wissen, dass sie mit sexueller Gewalt konfrontiert waren, sei es dergestalt, dass sie diese in der Familie miterlebt hatten oder persönlich davon betroffen waren. Oftmals ist es auch einfach “nur” ein fragwürdiges Sexualverhalten der Erwachsenen, das den Kindern und Jugendlichen Probleme bereitet. Bei etlichen besteht die Gefahr, selbst zum Täter zu werden oder es stellt sich heraus, dass sie bereits Grenzüberschreitungen begangen haben. Ein immer größerer Teil der Jugendlichen hat nach unseren Beobachtungen ein sehr problematisches Bild von Sexualität. Sexuelle Beziehungen zu anderen Menschen erwachsen häufig nicht (mehr) aus einer Freundschaft oder einer Beziehung, haben oftmals nichts mit dem Wunsch nach Nähe, Zuneigung und Zärtlichkeit zu tun, sondern werden als technische Angelegenheit betrachtet. Ohne Gefühlsbeteiligung entwickeln diese Jugendlichen ein sehr dingliches Verhältnis zur Sexualität.

Eine ganz besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang die modernen Medien. Kinder, die nicht persönlich im Sinne von körperlich sexueller Gewalt ausgesetzt waren, waren dies häufig durch das Verhalten der Erwachsenen in ihrer Umgebung, durch die sie mit Pornovideos teilweise der übelsten Sorte konfrontiert wurden. Was Kindern in diesem Zusammenhang zugemutet wird, erfüllt unseres Erachtens und nach unseren Erfahrungen den Tatbestand der sexuellen Kindesmisshandlung. Sinngemäß gilt dies ebenso für Medienprodukte, deren Inhalt durch Gewalt- und Horrorszenen anderer Art bestimmt ist. Wir können bei Kindern, die in ihrer bisherigen Lebensgeschichte häufig mit Gewaltszenen konfrontiert waren, in deutlich zunehmendem Maß eine seelische Verrohung und ein in ihnen schlummerndes Aggressions- und Gewaltpotenzial feststellen.

Aus der Kombination des Gefühls, nicht erwünscht und wenig gemocht zu sein mit Gewalterfahrung erwächst nach unseren Beobachtungen ein besonders hohes und gefährliches Gewaltpotenzial. Je tiefer dieses in den Kindern schlummert, umso schwerer ist es zu kalkulieren; oftmals ist die Gewaltbereitschaft erst auf den zweiten oder dritten Blick zu erkennen und kommt erst in zugespitzten Krisensituationen oder erst in fortgeschrittenem Jugendlichenalter und dann sehr überraschend zum Vorschein.

Immer wieder können wir beobachten, wie unter solchen entbehrungsreichen Verhältnissen aufgewachsene Kinder in dem Gefühl leben, es wäre besser, sie wären nicht da. Sie bewegen sich in der Erwachsenenwelt, als befänden sie sich in Feindesland. Mit entsprechenden Abwehrhaltungen – seien sie aggressiver oder depressiver Art – reagieren sie auf ihre Umwelt. Eine sich aufgrund solcher Lebenssituation entwickelnde Gefühlslage hält sich umso hartnäckiger, je tiefer und länger die Mangelsituation zu erleiden war.

Nach unseren Erfahrungen ist es von großer Wichtigkeit, den richtigen Zeitpunkt für eine Trennung zwischen dem Kind und der Herkunftsfamilie zu finden. Sofern möglich, ist es wünschenswert, ein Stadium der Problementwicklung abzuwarten, in dem es dem Kind möglich ist, den Sinn des Trennungsschrittes selbst einzusehen. Ohne diese Voraussetzung ist es für die aufnehmende Einrichtung zwar nicht unmöglich, aber doch sehr schwer, zwischen dem Kind und den neuen Bezugspersonen eine Atmosphäre der Geborgenheit zu schaffen, die für eine gedeihliche Zusammenarbeit erforderlich ist. Solange das Kind den Schritt aus der Familie in eine neue Umgebung nicht selbst als Erleichterung empfindet, ist es schwer, eine emotionale Beziehung zu ihm aufzubauen. Umgekehrt bedauern wir es manchmal sehr, wenn mit der Herausnahme eines Kindes aus dem bisherigen belastenden und/oder gefährdenden Milieu zu lange gezögert wird. Oftmals haben sich dann neurotische Verhaltensweisen in einem Maße verstärkt und verfestigt, das ein Eingreifen mit den üblichen pädagogischen Mitteln nahezu unmöglich macht.

Kinder, die aufgrund der deprivierenden Situation im Herkunftsmilieu in ihrem bisherigen Leben kein Urvertrauen entwickeln konnten, zeigen die unterschiedlichsten neurotischen Symptome, Es ist wichtig, darin kein selbstständiges Phänomen zu sehen. Das neurotische Symptom ist ein gescheiterter Selbstheilungsversuch des Kindes in einer bestimmten Situation oder regelmäßig wiederkehrenden Lebenslage, die durch Entbehrungen gekennzeichnet ist. Das neurotische Symptom selbst ist nicht etwas Störendes, das es zu beseitigen gilt; es gibt das neurotisierte Kind, in dessen Lebensgeschichte es etwas “Störendes” gab oder gibt. Das neurotische Symptom hat auch den Charakter eines Hilferufs. Diese Dialektik zwischen gestörtem sozialem Umfeld und der Reaktion des Kindes darauf muss Ausgangs- und Endpunkt in der täglichen pädagogischen Arbeit mit dem Kind sein. So betrachtet gibt es keinen Unterschied oder gar Gegensatz zwischen pädagogischem und therapeutischem Handeln. Die in diesem Sinne heilpädagogische Arbeit besteht im Verstehen der jeweiligen Eigenart des Kindes und der Einfühlung in die Zwangslage, in die es während seines bisherigen Lebens geraten war. U. E. ist dies der einzige Weg, um schwierigen und gefährdeten Kindern wirklich zu helfen.